Hat Barrierefreiheit etwas mit Design for All oder – international – mit Universal Design zu tun?
Peter H. Spitaler: Mit Barrierefreiheit wenden wir uns an 20 Prozent der Menschen. Das sind Personen mit Langzeitbehinderungen. Zusätzlich ergänzt sich diese Gruppe noch um Menschen mit temporären Einschränkungen. Unser ganzes Denken in Österreich hat sich in den letzten Jahren auf diese Gruppe konzentriert. Design for All ist aber das große Ganze: Es schließt die 20 Prozent ein, beachtet aber genauso die Bedürfnisse des Dreijährigen oder jene der älteren Frau mit gebücktem Rücken, die mit dem Rollator unterwegs ist. Beide haben das gleiche Ziel, nämlich den Lichtschalter in einer gewissen Höhe zu bedienen. Mit Design for All schaffe ich Lösungen für beide.
Ist eine barrierefreie Wohnung automatisch eine Design for All-Wohnung?
Nicht automatisch, sie sollte es aber sein. Design for All geht weit über den Baufokus hinaus: Da gehören Straßen und Spielplätze, die Geräte und Ausstattungen sowie Serviceprozesse dazu. Bei uns in Österreich ist dieses Thema deswegen auch noch nicht angekommen, weil jede Profession zu sehr auf ihren eigenen Bereich schaut: Der Architekt auf die Bauplanung, der Elektrotechniker auf seine elektrischen Lösungen. Beim Design for All ist es aber wichtig, dass die einzelnen Experten interdisziplinär arbeiten und sich vernetzen. Ich würde es begrüßen, wenn in meinen Lehrgängen Architekten, Akustiker, Physiotherapeuten und andere drinsitzen.
Gibt es in Europa ein Land, das sich mit Design for All beschäftigt?
Irland, Großbritannien und Skandinavien sind da sicher federführend. Norwegen beispielsweise hat sich vorgenommen, Universal Design durchgängig umzusetzen. Derzeit wird an einer Bestandsaufnahme über den öffentlichen Raum gearbeitet: Wie sieht es mit Gehsteigen und Straßenübergängen aus, wie mit Rampen, Stolperfallen und Kontrasten? Man schließt auch Verkehrsmittel mit ein – von der Stadt bis ins kleinste Dorf.
Wie kann ich mir Design for All in einem Gebäude vorstellen?
Schauen wir uns zum Beispiel einen Kindergarten an: Wir haben dort einerseits die Kinder, deren Selbstständigkeit gefördert werden soll. Wir haben das Kindergartenpersonal und wir haben Begleitpersonen der Kinder; das können auch ältere Leute sein, die auch gern ihrem Enkel bei der Weihnachtsvorstellung zusehen möchten. Das heißt, ich muss diesen Leuten auch geeignete Sessel mit einer guten Rückenlehne und Armstütze anbieten. Es macht auch keinen Sinn, nur putzige, kleine WCs zu machen, weil die Nutzergruppe nicht nur aus Kindern besteht. Oder ein anderes Beispiel: Architekt Wolfgang Tschapeller hat uns 2012 beim Wettbewerb für die Erweiterung der Universität für angewandte Kunst Wien als Universal Designer ins Team geholt. Wir haben „Personas“ der Nutzergruppen erstellt. Eine der entstandenen Personas ähnelte zufällig einer sehr bekannten Professorin. Sie unterrichtete damals noch an der Angewandten und mehr als drei Stufen waren für sie aufgrund ihres Alters und der damit verbundenen motorischen Einschränkungen nicht bewältigbar. Sie hat eben ganz etwas anderes benötigt als der 20-jährige dynamisch-sportliche Student. Im Zuge dieser Arbeit stießen wir ebenso auf eine Gruppe von hochintelligenten Studenten mit außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten. Für diese ist oft eine besondere Umgebung notwendig, die Stresssituationen reduziert. Und wer kommt bei der Sponsionsfeier? Meistens die ganze Familie.
Was erwarten Sie sich von der EN 17210?
Diese Norm beschreibt sehr schön, wie der Mensch funktioniert. Leider ist das Verständnis für seine Bedürfnisse in der letzten Zeit verloren gegangen. Wie hebe ich etwas auf? Wie bewege ich mich in einem Gebäude? Was brauche ich für die Orientierung? Der Mensch muss wieder im Mittelpunkt stehen. Und er definiert die Anforderungen. Wenn das ankommt, dann bewegen wir uns in Richtung gutes Design.
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