Wie heißt es so schön im Volksmund: „Totgesagte leben länger.“ Das gilt auch in der Welt des Gestaltens und in diesem Fall für den Marmor, der zurzeit ein unglaubliches Revival erlebt. Jahrelang, wenn nicht sogar Jahrzehnte, schien der edle Naturstein wie verbannt, auf den die Welt der Architektur seit seiner Entdeckung über Jahrhunderte niemals hätte verzichten wollen. Galt es zum Fin de Siècle fast schon als Muss – wenn das Budget nicht reichte, auch gerne als gepinselte Imitation – Marmor an Fassaden, an Böden und Wänden einzusetzen, so hielt man sich, wohl auch bedingt durch die desaströsen Weltkriege, an weniger kostbare Materialien. Der zweckmäßige Minimalismus fiel auf fruchtbaren Boden und blieb weiter bestehen, auch wenn es der Aufschwung durchaus erlaubt hätte, bei der Materialwahl wieder aus dem Vollen zu schöpfen.
Frisches Blut in den Adern
Lange war es still um ihn: Zu elitär, zu abgehoben, nur was für Snobs. Doch er wurde neu entdeckt: Marmor. Elegant, nachhaltig, ein haptisches und optisches Erlebnis.
Aus dem Dornröschenschlaf geholt
Doch jetzt ist es endlich soweit: Nach fast 100 Jahren sind die Architekten wieder auf den Geschmack gekommen, den auch Mies van der Rohe und Le Corbusier auszeichnete, und packen Gebäude wieder in Marmor. Nur einzelne Projekte wagten sich in dieser langen Zeitspanne über ein Material, ohne das zum Beispiel für den Wiener Textilspezialisten Emanuel Braun die Fassade seines Geschäftes, 1904 entworfen von Arnold Hatschek, undenkbar gewesen wäre. Zu den Ausreißern zählen etwa der Grande Arche in Paris von Johan Otto Spreckelsens aus dem Jahr 1989, Giuseppe Terragnis 1936 entworfene Fassade für die Casa del Fascio oder Alvar Aalto, der in den sechziger und siebziger Jahren gleich mehrerer Gebäude in weißen Marmor kleidete – wie die Finlandia-Halle und das Wolfsburger Kulturhaus. Oder der 1973 errichtete Palast der Republik, dem man ebenfalls eine Fassade aus Marmor angedeihen ließ, von dem allerdings heute nichts mehr übrig ist. Eines der jüngsten Beispiele ist das Osloer Opernhaus von Snøhetta, ein Bau, der eine neue Ära für den Marmor einläutet.
Von der Wanne zum Wandhaken
Anders als in der Architektur wandte man sich im Design schon früher wieder jenem Stein zu, der einst allein durch den Namen „Carrara“ in aller Welt Begeisterung auslöste, obwohl es neben Italien auch in vielen anderen Ländern den Stoff der Begierde gibt: Türkei, Finnland, Portugal, Frankreich, Spanien, Kanada und die USA freuen sich unter anderem, die Palette des Marmors in vielfältiger Hinsicht zu bereichern, etwa in Farbe und Zeichnung. Beobachtet man die internationalen Einrichtungsmessen, so wurde von Jahr zu Jahr klarer, dass der wiederbelebte Einsatz von Marmor im Interior keine Eintagsfliege bleiben wird. Sah man vorerst Badewannen, Waschtische und Arbeitsplatten für die Küche, so hat sich das Spektrum deutlich erweitert. Die Tischplatten sind zurück, und nicht nur in Nierenform, es gibt auch Leuchten, Accessoires und sogar Garderobenhaken aus Marmor, und das in allen Farben. Die naturgegebene Fülle an Couleurs, die Oxide verschiedenster Metallsalze dem Gestein angedeihen lassen, ist ein wahrer Fundus für Designer, die sich natürlich auch modernster Verarbeitungstechniken bedienen, um Produkte perfekt zu formen. Und das geht erstaunlich gut: Marmor ist zwar schwer, punktet aber mit seiner charmanten Maserung und fühlt sich niemals kalt an.
Fast schon göttlich
In Anbetracht dieser Entwicklungen wirft sich berechtigterweise die Frage auf, wie Marmor eigentlich jemals derart aus der Mode kommen konnte. Schon seit dem 7. Jahrhundert vor Christus verfiel man auf der griechischen Insel Paros seiner unvergleichlichen Schönheit, anmutig, stark und archaisch, seit dem 2. Jahrhundert vor Christus bedient man sich in Carrara des weißen Goldes, in jener Form, wie man Marmor grundsätzlich kennt, schätzt und liebt: unschuldiges Weiß wie makellose Haut, durch das sich ein Netz feiner, grauer Adern zieht, in denen das Blut zu pulsieren scheint. Jedes einzelne Stück, das dem Berg entnommen wird, ist ein Unikat, originell, natürlich und unnachahmbar. Doch irgendwann hatte sich die Welt daran satt gesehen. Galt er lange Zeit als probates Mittel zur Repräsentation, zur Demonstration von Macht, Geld und Dauerhaftigkeit, so kippte die Leidenschaft in Skepsis, und Marmor wurde zu einem jener Symbole, die für Verschwendungssucht, Protz und Umweltzerstörung standen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte Marmor ein neues goldenes Zeitalter: Wandverkleidungen wanderten nun von innen auch nach außen, Fassaden wurden richtig vertäfelt – nicht nur in Europas Metropolen, sondern auch die Skyscraper Amerikas. Nichts war exklusiv und teuer genug, um den eigenen Glanz nach außen zu tragen – vom k. und k. Hoflieferanten bis zu den ersten Hochhausbauten der Moderne.
Bedürfnis nach nüchterner Zurückhaltung
Auch später in den sechziger Jahren griff man vor allem in den Staaten gerne zu Marmor für Fassaden, denn seine Vorteile sind bis heute unbestritten: Extrem robust und widerstandfähig, vor allem schön und – was zu diesem Zeitpunkt besonders zu tragen kam – lichtdurchlässig wie die Beinecke Rare Book Library in Yale perfekt demonstriert. In ganz ähnliche Fußstapfen tritt das zukünftige Ronald O. Perelman Performing Arts Center von REX in New York, das ebenfalls eine komplette Hülle aus Vermonter Marmor bekommen wird.
Es bleibt bis heute ein Gratwanderung des Geschmacks und der Philosophie, wie es Autor Stephan Becker in seinem Essay Marmor: Das große Comeback treffend formuliert: „Die Welt des Emanuel Braun war untergegangen und mit ihr die Lust an einem Material, das zu teuer und individuell ist für eine Zeit, in der selbst Luxusmarken in gesichtslosen Einkaufzentren verschleudert werden. Dabei werden durchaus noch große Mengen an Marmor verbaut, allerdings weniger aufgrund seiner spezifischen Ästhetik, so scheint es, sondern in der Anmutung eines Industrieprodukts, das zufällig das teuerste auf der Preisliste war ... Für die sozialreformerische Seite der Moderne, vom Bauhaus bis zum Siedlungsbau, war das Material jedoch nichts. Und das ästhetische Bedürfnis nach nüchterner Zurückhaltung, wie es sich nach dem Krieg durchzusetzen begann, verlangte schlicht nach schmucklosen Wänden, am liebsten verputzt, ganz ohne Tapete. Trotzdem fand Marmor auch nach dem Krieg noch breitere Verwendung. Selbst der Wohlfahrtsstaat verlangte bei seinen Bauten hin und wieder nach teurer Repräsentation, und alleine der Name „Carrara“ war in der Lage, der Öffentlichkeit wohlige Schauer zwischen der Sehnsucht nach Luxus und der Empörung über verschwendete Steuergelder den Rücken hinunterzujagen.“
Erfüllte Sehnsucht
Nun scheint jedoch die Zeit wieder reif: Der Marmor ist wieder zurück und das mehr denn je. Hochkarätige Designer unter anderem wie Angelo Mangiarotti, Piero Lissoni, Achille Castiglioni, Eero Saarinen, Ferruccio Laviani, Richard Hutten, Enzo Berti oder Paul Cocksedge ließen die Leidenschaft dafür niemals verfliegen, sondern hielten daran fest. Durch sie ist Marmor nie ganz in Vergessenheit geraten, der heute eine Renaissance erlebt – indoor und outdoor. Es sind wohl sie und ihre Möbelkreationen, die dem Naturstein zu einer neuen Wahrnehmung in der Gesellschaft verholfen und ihn damit wieder „salonfähig“ gemacht haben: Marmor für alle, zum Angreifen. Damit scheint der Imagewandel vom protzigen Luxus hin zum wertigen Alltagstauglichen die wichtige Hürde endgültig genommen zu haben.
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