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Alles nur Fassade?

© Aika Schluchtmann Architekten
16 grüne Geschoße für München: Architektin Aika Schluchtmann baut mikroklimabewusst.
© Aika Schluchtmann Architekten

Es scheint, als würde es in Zukunft zum guten Ton in der Architektur gehören, wenn sich möglichst viel Blattwerk um das Gebäude rankt. Zumindest steuert die Politik darauf hin. Doch ist das wirklich die Lösung?

von: Barbara Jahn

Weltweit werden Städte richtiggehend „aufgeforstet“. Ob dem italienischen Architekten Stefano Boeri, der mit dem Bosco Verticale in Mailand einen neuen Maßstab im Wohnbau setzte, klar war, dass seine Idee so zukunftsweisend sein würde? Im ersten Moment sicher nicht. Schön anzuschauen ist es ja, wenn alles grünt und blüht wie ein kleiner Mikrokosmos inmitten einer zubetonierten Landschaft, die sich vor Hitze kaum noch retten kann. Aber es bleibt trotzdem die vorsichtige Frage, ob das wirklich effizient ist und dem Stadt­klima tatsächlich etwas bringt oder einfach nur ein Versuch ist, mit einer neuen, ästhetischen Gestaltungsvariante von vertikalen Flächen optisch mehr Grün und damit mehr Frische in die Stadt zu bringen. Grund genug, sozusagen einmal „hinter die Fassade“ zu schauen.

Bewusst besser bauen
Australien ist ein vom Klimawandel besonders stark betroffener Kontinent. Überschwemmungen und Brände stehen an der Tagesordnung – höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen. Einer, der nun auch in Sachen Architektur aktiv wird, ist der Softwareriese Atlassian, der gemeinsam mit dem New Yorker Büro SHoP das höchste Holzhochhaus der Welt plant. Auf 40 Stockwerken spielt die Ökologie die erste Geige, gar nicht so sehr die Höhe. Statt Beton und Stahl kommt hier Sperrholz von Nadelgehölzen zum Einsatz, die derzeit noch bestehenden Bauten vor Ort werden in den Neubau integriert und so recycelt. Ganz ohne Stahl und Beton geht es freilich nicht – der Brandschutz muss gemeistert werden. Dafür wird der Turm in ein Exoskelett gewickelt. Hinter dieser gitterartigen Struktur schlängeln sich kleine Gärten an der Fassade empor, gekrönt von einem richtigen Park mit Wiesen, Bäumen und Sträuchern auf dem Dach. Gemeinsam mit der Gewinnung von Strom aus Sonnenkraft sollen diese Maßnahmen dazu führen, 50 Prozent weniger Energie zu verbrauchen und 50 Prozent weniger Kohlenstoff in seiner Konstruktion zu enthalten als massiv gebau­te Gebäude.

Das Dorf in der Stadt
Zurück nach Europa. Hier wird sich auf Boeris Lorbeeren nicht ausgeruht und fleißig getüftelt. Jede Stadt auf ihre besondere Art und Weise. Paris beispielsweise erfindet sich gerade mit der groß angelegten Kampagne „Reinventer Paris“ selbst neu. Autos müssen weg, Bäume müssen her – kurz zusammengefasst. So plant etwa der japanische Architekt Sou Fujimoto gemeinsam mit dem Pariser Architekturbüro OXO Architectes das Projekt Milles Arbres, ein gläserner Gebäudekomplex mit Mischnutzung, der dem riesigen Autobahnkreis­verkehr an der Porte Maillot den Garaus machen soll. Schon unten mit einem öffentlichen Park beginnend, erheben sich darüber zwei Ebenen, die durch vertikale Ausnehmungen viel natürliches Licht in die innen gelegenen Bereiche lassen. Oben entstehen ein privater Park und eine Reihe von kleinen Niedrigenergiehäusern mit Sattel­dach, eine Art kleines Dorf und ins­gesamt ein wertvoller Beitrag für die Artenvielfalt. Die Energie für den urbanen Mikro-Öko-Kosmos kommt aus Photovoltaik und Windturbinen, ein thermischer Kreislauf reduziert den Wärmebedarf nochmals um 10 bis 15 Prozent.

Den Bogen schlagen
Auch in München nützt man die Chance, mit begrünten Fassaden neue Wege zu beschreiten. In der Bogenhausener Ara­bellastraße wurde von Architektin Aika Schluchtmann ein 52 Meter hohes Wohngebäude geplant, für das noch eifrig geforscht wird. Insbesondere wird erkundet, welche Pflanzenarten für welche Himmelsrichtung im Rahmen des Bepflanzungskonzepts, das das Unternehmen Vertiko entwickelt hat, überhaupt infrage kommen. Im Fokus steht hier ganz klar die Kühlung der Umgebung. Das gelingt durch die Photosynthese, bei der Feuchtigkeit abgegeben wird. Gepflegt und gewartet wird die grüne Hülle des Gebäudes über einen eigenen Wartungsgang pro Etage, der zwischen Glaswand und Begrünung eingeplant ist.

Mehr Mut
Wien scheint da vergleichsweise noch ein wenig zaghaft. Da sticht doch schon fast mutig die begrünte Fassade des Hotels Gilbert in der Wiener Breite Gasse ins Auge, die sich als integraler Teil der Gebäudearchitektur versteht. Geplant wurde das Living-Wall-System des holländischen Begrünungsspezialisten Sempergreen vom Wiener Büro Green4Cities als ganzjähriger Pflanzenmix aus Gräsern, Stauden und Gehölzen. Durch die Verdunstung und die dadurch entstehende Kühlleistung können die Klimageräte getrost selbst Urlaub machen. Aber nicht nur, dass es gleich drei Grad Celsius kühler wird: Auch der Lärm wird erheblich reduziert. Die Pflege? Auch hier denkbar einfach. Die Cradle-to-Cradle-zertifizierten Fassadenteile verfügen über eine automatisch gesteuerte Wasser- und Nährstoffversorgung. Dagegen wirken die smarten Pflanzentöpfe, die auf dem bald fertiggestellten, überdimensionalen „Ikea-Regal“ von Querkraft Architekten eingerichtet werden, fast schon ein wenig zaghaft, um hier in Sachen mehr Grün für Österreichs hitzegeplagte Hauptstadt ordentlich etwas zu bewegen. Keine Frage: Hingucker ist es in jedem Fall – neu im Ansatz und erfrischend lebendig. Ob das allerdings, womit beim Standortkonzept geworben wird, tatsächlich aufgeht und Verkehr eingespart wird, bleibt noch abzuwarten. Wird dieser durch den Lieferverkehr einfach substituiert, dann ist das derzeitige Fassadengrün höchstwahrscheinlich viel zu wenig, um ökologisch wenigstens ausgeglichen zu bilanzieren. Aber das ist eine andere Geschichte. 

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